Freiraum entwickeln nach Traumatisierung –
Traumaspezifische Interventionen im Focusing

von Sigrid Patzak
(erschienen im Focusing Journal Nr. 25, 2010)

Abstand von Erinnerungen und den dazugehörigen Gefühlen traumatischer Erfahrungen zu finden, ist einer der drängendsten Wünsche von Menschen, die an posttraumatischen Folgen leiden. Das sind meist Erinnerungen an  Situationen, in denen Kämpfen oder Fliehen nicht möglich war, sondern Ohnmacht, Ausgeliefertsein und Erstarrung erlebt wurden. Menschen beschreiben solche Erfahrungen als „seelische Katastrophe“, dass ab da „nichts mehr war wie zuvor“, oder wie einen „Riss in der Seele“.

Seit 2006 arbeite ich als Traumatherapeutin in der Klinik für Psychosomatik in Nürnberg. Von 1994-2000 machte ich die Focusing-Therapie-Ausbildung am DAF Würzburg. Bis 2006 war ich schwerpunktmäßig im sozialpsychiatrischen Bereich tätig und begleitete psychisch kranke Menschen, Angehörige und Menschen in Krisensituationen. Daneben arbeitete ich freiberuflich bei Wildwasser Würzburg und in eigener Praxis. Ab 2001 begann ich mich mit traumaspezifischen Ansätzen zu beschäftigen und machte in den folgenden Jahren die Weiterbildung in Psychodynamisch-Imaginativer-Traumatherapie bei Luise Reddemann, die Weiterbildung in Eye Movement Desenzitisation and Reprocessing (EMDR), Seminare in Ego-State-Therapie u.a. Methoden.

Im Folgenden möchte ich die Elemente meiner traumatherapeutischen Arbeit in der Klinik beschreiben, die ich sehr häufig einsetze und die vielen Betroffenen helfen, auch mit extrem belastenden Erlebensinhalten in Beziehung zu treten, also Freiraum herzustellen. Diese Elemente werde ich auch in meinem Seminar „Wege zu mir und meinen Kraftquellen finden nach belastenden Erfahrungen“ im Februar 2011 im DAF Würzburg vermitteln (siehe Themenzentrierte Seminare 2011 in diesem Journal).

Die uns im Focusing vertrauten Möglichkeiten, das „Ich“ frei von aktuellen Belastungen  wahrnehmen zu können, d.h. Freiraum  z.B. durch das Erspüren eines „guten Ortes“ im Körper, oder durch die Vorstellung, „Päckchen“ aus aktuellen Problemen zu packen, um sie dann neben sich zu stellen, brauchen manchmal in der Begleitung traumatisierter Menschen eine Vorbereitung. Denn sobald sie die Aufmerksamkeit auf sich und ihren Körper lenken, können mit dem Trauma verbundene Gefühle, wie Ohnmacht und Panik, geweckt werden. Um solche unerträglichen Gefühle nicht durchleben zu müssen, greift der menschliche Organismus häufig auf den Schutzmechanismus Erstarrung und Dissoziation zurück. In diesen Zuständen haben Menschen keinen Zugang zu ihrer Lebenskraft, sie sind vielmehr im „Freeze“ und handlungsunfähig.

Dissoziation ermöglicht der Seele, wenn reale Flucht nicht möglich ist, innerlich aus einer unerträglichen Situation zu entfliehen. Im dissoziierten Zustand fühlt man sich wie betäubt, spürt keinen Schmerz und keine Gefühle, der ganze Körper kann sich wie getrennt anfühlen (vgl. B. Rothschild, Der Körper erinnert

sich, S.102-103). Diese Schutzreaktion führt dazu, dass nur Bruchstücke der belastenden Erfahrung sich einprägen: z.B. eine kurze Handlungssequenz, ein einzelner Moment, eine bestimmte Körperempfindung oder andere Sinneswahrnehmungen. Wenn der Organismus es nach einigen Wochen oder Monaten nicht von selbst schafft ein Trauma zu verarbeiten, drängen sich diese Bruchstücke auch lange Zeit nach dem Ereignis immer und immer wieder unwillkürlich auf (vgl. Sachsse, S.52). Ein bestimmtes Geräusch, ein bestimmter  Geruch oder ein Gedanke kann die bedrohliche Situation aus der Vergangenheit so lebendig werden lassen als würde sie jetzt geschehen. Beispielsweise kann ein Mensch nach einem Autounfall bei jedem Bremsgeräusch eines Autos von Panik und Ohnmacht überflutet werden. „Solche Intrusionen sind grade keine gelassenen Erinnerungen, sondern es sind reaktivierte Erfahrungen.“ (Sachsse, S.52).

Angesichts solcher extrem intensiven, wieder lebendig gewordenen Gefühle sind für traumatisierte Menschen häufig spezielle Schritte notwendig, damit  „sich der Körper wieder als Ganzes finden kann“ (E. Gendlin, J. Wiltschko, Focusing in der Praxis, S.29). Erst dann wird „ ... die dem Körper (Leib, Organismus, Lebendig-Sein, ...) innewohnende „Kraft“, das Leben zu erhalten und fortzusetzen,...“ (J.Wiltschko, 2008, S.3) wieder zugänglich, die von sich aus nächste stimmige Schritte bringt. Damit der Organismus zu seiner Lebenskraft (zurück-) finden kann, ist das Erleben von Sicherheit und Kontrolle zentral, um Freiraum zu ermöglichen. Traumatisierte haben den Verlust von beidem als extrem ängstigend erlebt. Die Angst davor, die Kontrolle über ein Geschehen wieder zu verlieren ist häufig sehr hoch und kann eine erhöhte Wachsamkeit und Anspannung zur Folge haben. Sicherheit vermittelt in der Regel, wenn wir als Begleitende zunächst besprechen, was der Klient tun kann, wenn er plötzlich stark belastende Empfindungen wahrnimmt oder droht zu erstarren. Das kann bedeuten ein Handzeichen zu vereinbaren, mit dem er das Ansteigen der Anspannung signalisieren kann, um dann bspw. die Anregung zu bekommen, seine Aufmerksamkeit  auf einen Gegenstand im Raum zu lenken. Er kann dann vielleicht auch den Gegenstand beschreiben, oder aufstehen und sich bewegen, oder eine Rechenaufgabe lösen oder ähnliches mehr. Es geht darum durch Ausprobieren eine Strategie zu finden, die möglichst gut und schnell wirksam ist, um den Anspannungsniveau wieder zu senken und die Kontrolle zurückzugewinnen. Die Erfahrung „ich kann etwas tun, wenn diese schlimmen Gefühle kommen, ich bin ihnen nicht ausgeliefert“ ist das Wertvolle daran.

Zunächst ist es deshalb sinnvoll, den Klienten nur dann zum Nachspüren im Körper einzuladen, wenn es um eine Resonanz oder einen felt sense zu etwas eindeutig Stärkendem bzw. Positivem geht, damit (neue) angenehme Erfahrungen mit dem Körper und den eigenen Gefühlen möglich werden.

Viele erleben in der Anfangsphase der Beratung oder Therapie Informationen über die typischen Folgen von Traumatisierung und wie sie erkennbar sind, als stärkend, weil das Verständnis für sich selbst damit wächst. Ein, aus meiner Erfahrung, sehr gutes Selbsthilfebuch ist „Trauma – Folgen erkennen, überwinden und an ihnen wachsen“ von L. Reddemann und C. Dehner-Rau. Ich empfehle es sehr gerne Betroffenen, gleichzeitig verschafft es auch Begleitenden  einen guten Überblick über die Thematik.

Wenn es also zunächst nicht möglich ist, im Körper einen guten Ort zu finden, weil jedes In-Sich-Hineinspüren schon belastende Gefühle weckt, kann es notwendig sein, eine Idee von einem guten oder sicheren Ort im Gespräch zu entwickeln. Dieser gute oder sichere Ort kann sich außerhalb des Körpers an einem imaginierten Ort befinden und ist, wenn die Klientin diese Vorstellung zulassen kann, ideal, d.h. hundertprozentig sicher, so wie wir es nur mit unserer Phantasiekraft schaffen können. Als Begleiterin frage ich immer wieder nach: Wie könnte er noch sicherer werden? Denken Sie, so ist dieser Platz vollkommen sicher? Erst wenn die Klientin eine vollkommen gute Vorstellung entwickelt hat, lade ich sie ein, dies in ihrem Inneren zu überprüfen und eine Resonanz zu diesem Ort entstehen zu lassen. So können wir das Risiko, Gefühle und Empfindungen zu einem noch nicht ganz sicheren Ort zu fühlen, möglichst gering zu halten. Für manche ist die Beschäftigung mit dieser Imagination der Beginn davon, ein Gefühl von Sicherheit in sich (wieder) zu empfinden.

Das Konzept der Teilpersönlichkeiten in der Traumatherapie

Sich vorzustellen, dass nicht der „ganze Mensch“, sondern eine innere Teilpersönlichkeit traumatisiert ist, verstärkt weiter die Möglichkeit Freiraum herzustellen. Dieses Konzept der Teilpersönlichkeiten in die Arbeit mit traumatisierten Menschen einzuführen, ist meiner Erfahrung nach sehr hilfreich. Ich kann dann anregen, (auch) über einen sicheren oder Wohlfühl-Ort für den traumatisierten Anteil nachzudenken. Darüber, wie der Platz für einen Menschen, der so etwas Bedrohliches erlebt hat, beschaffen sein muss, damit er  anfangen kann, sich sicher und geborgen zu fühlen. Dann kann er merken, dass die Gefahr jetzt vorbei ist. Der traumatisierte Anteil wird gedacht als einer, der im Trauma wie eingefroren ist und sich heute noch in Gefahr fühlt. Der Mensch, der in Therapie gekommen ist, kann dafür gewonnen werden,  mit Unterstützung der TherapeutIn für diesen Anteil etwas zu tun, bzw. sich Gedanken darüber zu machen, was für ihn gut wäre. Das „tun für...“ schafft einen Zugang zu dem Erleben: „heute bin ich handlungsfähig“, ich kann mir jetzt einen sicheren Ort für ihn ausdenken oder imaginieren.

Wenn das gelungen ist, geht es um die Frage, wer den traumatisierten Anteil aus der Gefahrensituation herausholen und schützen und an den guten Ort bringen kann.

Rettungs- und Schutzwesen imaginieren – von der Bedeutung nicht alles selbst tun zu müssen

Für manche ist es gut möglich, sich vorzustellen das Retten und Schützen selbst zu tun und empfinden das als stärkend. Andere schrecken an dieser Stelle zurück, weil sie ahnen, dann in traumaassoziierte Gefühle hinein zu rutschen. Entlastend ist wahrscheinlich grundsätzlich auf die Möglichkeit hinzuweisen oder auch anzuregen, dass imaginierte Retter- oder Schutzwesen dies tun können, damit die Klientin möglichst achtsam mit sich selbst sein kann und sich vor Überforderung schützt.

Sich Helfer oder Retter vorzustellen, die das Herausholen und in Sicherheit- bringen übernehmen, fördert den Freiraum zwischen dem Ich und den Gefühlen des traumatisierten Anteils, außerdem wirkt es entlastend, weil der Druck, sich selbst ideal zu verhalten, an ein anderes Wesen abgegeben werden kann.

Je nach Traumasituation braucht dieses Helferwesen ganz spezifische Kräfte und Fähigkeiten, um retten zu können: zum einen, um vor der jeweiligen Gefahr schützen zu können und zum anderen den Anteil zu befähigen, die Situation wirklich verlassen zu dürfen. Das können z.B. sehr wehrhafte Tiere wie Tiger oder Löwen sein oder mächtige Figuren aus Kinderbüchern, Science-fiction-Filmen oder Märchen oder auch spirituelle Wesen wie Schutzengel, Feen oder andere. Der Imaginationskraft sind keine Grenzen gesetzt. Mit ihr können menschliche, tierische oder spirituelle Wesen mit vollkommen idealen Fähigkeiten ausgestattet werden.

Nun kann mithilfe des Retter-Wesens das traumatisierte Ich an den Ort gebracht werden, an dem es sicher und geborgen ist, und dort weiter in idealer Weise versorgt wird. Manche haben ein bestimmtes Schutzwesen, das alle Aufgaben übernehmen kann: Schützen, Retten, Trösten und Versorgen. Andere entwickeln Bilder von mehreren positiven Wesen, die unterschiedliche Fähigkeiten haben.  Erst wenn die „Rettungsaktion“ abgeschlossen ist, frage ich nach dem Gesamtgefühl im Inneren der Klientin, um das Positive an dem Geschehen einzusammeln und sich ausbreiten zu lassen.

Eine „Gegenwelt“ entwickeln

Als BegleiterIn oder TherapeutIn traumatisierter Menschen übernehmen wir, mindestens in der Anfangsphase der Begleitung, eine sehr aktive Rolle, um zu helfen, erstmal eine „Gegenwelt“ im Inneren zu der bestehenden Welt der  Panik, Hilflosigkeit und Erstarrung zu schaffen. Je stabiler diese innere „Gegenwelt“ wird, umso leichter wird es auch für die Klientin in innere Achtsamkeit zu gehen und sich dort, in ihrem inneren Erlebensraum sicher zu fühlen. Die Wirksamkeit dieser „Gegenwelt“ ist sehr von einem regelmäßigen Einüben abhängig. In der ersten Zeit ist es für viele Betroffene wichtig, sich täglich einige Minuten mit den neu entwickelten positiven Vorstellungen zu beschäftigen. Dadurch wächst die Steuerungsfähigkeit, die Freiraum möglich macht. Zur Verstärkung können diese Imaginationen gemalt werden, ein Symbol kann bei sich getragen werden, sie können mit einer Geste oder Körperhaltung verknüpft werden  u.ä. mehr. Je vertrauter und leichter aktivierbar diese Vorstellungen der „Gegenwelt“ werden, umso mehr wird Freiraum erlebbar und die Klientin kann ihr Lebendigsein als Wohlgefühl, ...“als ein sich im bloßen Dasein Wohlfühlen“ (Wiltschko, 2008, S.3) empfinden. Sich wohl- und lebendigfühlen im eigenen Körper  ist (besonders) für Menschen, die mehrfache oder über einen längeren Zeitraum andauernde Traumata erlebt haben, neu, überraschend und beglückend – auch als BegleiterIn.

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Literatur: